Brief an Christine
vom wordpress blog 11. April 2015
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„Liebe Christine, heute war kein guter Tagesanfang. Zu wissen, dass eine
Frau vom Dach der Kurklinik in den Freitod gesprungen ist, macht mich
sehr nachdenklich. Es geht mir gut, sei unbesorgt. Die Kinder sind in
guten Händen. So langsam frage ich mich, wie ich es die nächsten Wochen
hier noch aushalten soll. Die Kur abbrechen geht nicht. Und vor allem
nach dem Ganzen, bis ich diese Kur endlich bewilligt bekam. Danke für
all deine Hilfe in der Zeit, als ich kopflos wurde und du mir durch
deine vielen Telefonate Hilfestellung gabst. Mir immer Mut gemacht hast,
nicht aufzugeben, den Widerspruch einzureichen. Letztendlich war alles
vom Erfolg gekrönt. Du warst für mich da in vielen meiner Krisenzeiten.
Ich habe mich oft gefragt, wann waren deine? Unsere Freundschaft besteht
nun über so viele Jahre und ich schaue positiv in die Zukunft. Während
meiner Ehe hat unsere Verbundenheit sehr gelitten. Er mochte dich nicht,
hat dich nie akzeptiert, geschweige respektiert. Wann immer es ging,
hat er gegen dich geschimpft, versucht dich schlecht zu reden. So
manches Mal dachte ich, dass der lange Faden unserer Freundschaft
zerreißen würde. Es gab keine Machtkämpfe zwischen uns. Wir beide haben
dies stets vermieden. Langsame Routine hatte sich bei uns
eingeschlichen. Hier und da ein Anruf, der obligatorische
Geburtstagsgruß, was bedeutete das für denjenigen? Bedeutete es das
nahende Ende einer Freundschaft? Fragen über Fragen.
Auseinandersetzungen mit dem Partner versuchte ich zu vermeiden. Die
Harmonie war mir wichtig. Weißt du noch, wie wir während unserer
Ausbildungszeit die Jungs genarrt hatten? Alle dachten, bis zu dem
Zeitpunkt unserer Berlin-Reise, wir hätten ein Verhältnis miteinander.
Das war zu der damaligen Zeit verpönt und das Gerede hinter unserem
Rücken machte uns so manches Mal zu schaffen. Du aber mit deinem
Auftreten, deiner Persönlichkeit, tratest dem entgegen. Auch wir sind
uns oft aus dem Weg gegangen, bis die Wut und der Ärger auf den anderen
verflogen waren. Es gab den Weg zurück, und wir haben miteinander
geredet. Im Laufe der Jahre haben wir unsere Grenzen dem anderen
gegenüber abgesteckt, unsere Positionen geklärt.
Was ist der Sinn
unseres Lebens? Diesen Satz hatte ich mir in der Vergangenheit oft
gestellt. Geboren zu werden, um zu lieben und geliebt zu werden, neues
Leben gebären, geliebt zu werden und dann am Ende unseres Weges wieder
allein weiter zu gehen. Was würde ich den Lieben hinterlassen? Würde ich
einen leeren Raum nur mit meinem Namen füllen? Oder würden sie meine
Spuren im Sand der Zeit sehen, bevor der Seewind sie zerstört?
Oberflächlich mit den Menschen umzugehen, hieß auch Distanz, keine Nähe
zuzulassen. Das Lernen war nicht deine größte Stärke, doch du warst
diszipliniert. Stets zum Lachen aufgelegt, verbreitest du gute Laune.
Unsere gemeinsame Lieblingslehrerin hat einmal gesagt, ihr war noch nie
zuvor so ein reizendes wie auch liebenswürdiges Mädchen begegnet. Du
warst und bist es wohl heute noch, wir haben uns lange nicht gesehen,
ein Meister der Körpersprache.
Ich lasse meinen Gedanken freien Lauf in
diesen Zeilen. Hoffentlich bringt dich das Durcheinander nicht selbst
durcheinander. Unsere damaligen fast ärmlichen Verhältnisse, in denen
wir aufwuschen, wurden ausgeblendet durch deine Anwesenheit, deine Aura,
die dich umgab. Die Eltern mussten mit dem Notwendigsten zurechtkommen.
Großartige Wünsche konnten schlecht erfüllt werden. Aber meiner Mutter
lag es sehr am Herzen, dass für Bücher ab und an Geld vorhanden war.
Die Leihbücherei hatte ich schnell leer gelesen. Diese Liebe teiltest du
nicht, doch du hast dich nie beschwert, wenn ich dich in meine Welt der
Märchen und Fantasie entführte.“
Für einen Moment hielt ich inne und
schaute vom Blatt hoch. Die eben noch da gewesenen Bilder zerplatzten
wie eine Seifenblase und ich sah mich um. Keinerlei Wärme strahlte
dieses Zimmer aus, die wenigen persönlichen Sachen wirkten wie tot.
Alles, was ein Wohlfühlgefühl in dem Raum erzeugen würde, war nicht
erlaubt. Angefangen von Blumen oder einem Blumenstrauß, Kerzen wegen der
Feuergefahr, der nackte Fernseher thronte auf seinem Platz. Auf dem
Regal über dem Bett standen die Fotos meiner Kinder und ein paar
ausgesuchte Bücher. Ich beschloss, den Brief an einem anderen Tag weiter
zu schreiben und legte ihn in die Schublade mit dem festen Vorsatz, ihn
morgen zu beenden. Am Ende meiner Kur fand ich den Block beim Packen
meiner Sachen. Die Schublade hatte ich bis dahin nicht geöffnet.
Christine hat diesen Brief nie erhalten und mit keinem einzigen Wort
habe ich ihn je ihr gegenüber erwähnt. Nun ist es zu spät, du bist
gegangen.
Geblieben ist mir dieser nicht vollendete Brief als ein
Geschenk an unsere Freundschaft, das Wissen um die Bedürfnisse, die wir
haben. Das Geschenk nach echter Freundschaft, Lebensfreude und
Zuversicht – auf das sie ewig währt.